Pflegerin angeklagt: Tötete sie auch im Etienne?

Neuss. Ab morgen muss sie sich vor dem Richter verantworten. Mindestens in einem Fall soll sie selbst einer gewesen sein: Richter(in) über Leben und Tod! Darf eine Haupt-oder Realschülerin Gott spielen und ein Todesurteil fällen, gegen studierte Fachärzte agieren? In Deutschland kein Einzelfall. Morgen muss sich eine Neusser Krankenschwester vor dem Düsseldorfer Landgericht verantworten: Pflegerin M. soll am 2. Februar 2021 in der Zeit von 5.55 Uhr bis 14.15 Uhr im Frühdienst auf der Intensivstation des Neusser Lukas-Krankenhauses (Rheinland-Klinikum) einen 52jährigen Covid-Patienten getötet haben. Ihr drohen bis zu 15 Jahre Gefängnis. Warum die Kontroll-Mechanismen in der Klinik versagt haben und ob es noch andere Opfer geben kann, wird auch zur Sprache kommen.

Zuvor hat M. (41) in der Intensivstation des Etienne Krankenhauses gearbeitet und war von 2011 bis 2014 dort und bei den Neusser Augustinuskliniken beschäftigt. Was auffällt: Sie wechselte ihre Arbeitsstellen recht zügig, erfüllte ihre Verträge teilweise nur ein Jahr, oft nur drei Jahre. Ihre Stationen: Universitätsklinikum Ulm, Berlin, München, Harlaching, Willich, Neusserfurth und Neuss. Bei ihren Fortbildungen interessierte sie sich vor allem für Brovlac-Katheder bei immunsupprimierten Kindern, offenes Beatmungstraining, invasive Beatmung, Reanimations-Varianten. Auf einer Berliner Oberschule erreichte sie 1998 nur einen erweiterten Realschulabschluss. Und genau hier setzt die Kritik an: Wer darf bei einem schwerkranken Patienten „Gott“ spielen und durch Medikamentengabe oder Unterlassung ein Todesurteil fällen: Der hochstudierte Oberarzt mit seinem medizinischen Fachwissen unter Hinzuziehung anderer Kolleginnen und Kollegen, Ethikern, der Patientenverfügung und der Angehörigen – oder eine Realschülerin unkontrolliert als Einzelrichterin über Tod und Leben?

Der Fall im Lukaskrankenhaus ist gut dokumentiert: Seit Dezember schon lag der 52jährige Patient im Krankenhaus an der Preußenstraße. Er hustete, bekam kaum Luft. Corona hatte ihn schwer erwischt. Er litt aber auch an anderen Krankheiten. Sein Zustand verschlechterte sich in der Nacht zum 2. Februar 2021. Der Blutdruck ging gefährlich in den Keller. Die Ärzte verabreichten ihm das Medikament Aterenol, das der Hebung des Blutdruckes dient.

Die Staatsanwaltschaft wirft Pflegerin M. vor, an diesem Tag eigenmächtig und entgegen der Anordnung der behandelnden Ärzte die Dosierpumpe so manipuliert zu haben, dass das lebenserhaltende Medikament in einer viel zu niedrigen Dosis in die Blutbahn des Patienten gelangte. 

Pflegerin M. wollte offenbar aus Mitleid verhindern, dass der Patient leide, daher habe sie die Anordnung des leitenden Oberarztes nicht durchgeführt und die Perfusionslaufrate nicht erhöht. Dies soll sie anderen Kolleginnen des Rheinland-Klinikums gesagt haben. Im Zuge der Pflegeübernahme der Spätschicht soll die Angeklagte nicht die ärztlich angenommene Menge von zehn Milligramm Aterenol in die Spritze aufgezogen haben, sondern nur fünf. Viel zu wenig! Dies habe sie getan, um den Tod des Patienten zu beschleunigen. Die Angeklagte soll dies auch ihrer für den Spätdienst eingeteilten Kollegin mitgeteilt haben. Die Kollegin der Spätschicht habe aber die Abweichung von der Anordnung des Oberarztes bemerkt und die korrekte Menge des Medikaments verabreicht. Daraufhin soll die Angeklagte aber die korrekte Spritze der Dosierpumpe durch die zu niedrige Dosierung des Medikamentes (50 Prozent) ersetzt haben. Der Patient starb dann zeitnah an einem Multiorganversagen.

Der Fall hatte bereits im Frühjahr 2021 im Lukaskrankenhaus für Entsetzen gesorgt: Damals hatten Polizei und Staatsanwaltschaft am Rheinland-Klinikum die Krankenschwester M. festgenommen. Die Mordkommission hat ihre Ermittlungen zügig abgeschlossen, die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben: Konkret lautet der Vorwurf: „versuchter Totschlag durch Unterlassen“. Warum es ein „versuchter Totschlag“ gewesen sein soll, hat juristische Gründe. So sei nicht klar gewesen, ob der lebensbedrohlich erkrankte 52-Jährige bei Verabreichung der korrekten Dosierung des Medikamentes überhaupt überlebt hätte.
Die damals 39 Jahre alte Verdächtige wurde unverzüglich von der Polizei
festgenommen, der Ermittlungsrichter erließ einen Untersuchungshaftbefehl.

Im Zuge der Ermittlungen gab es zahlreiche Zeugenbefragungen. Es wurden
sogar spezielle Fragebögen unter den Mitarbeitern verteilt. So sei anhand der Dienstpläne überprüft worden, ob sie noch für weitere Sterbefälle in der Klinik verantwortlich sein könnte. „Weitere Taten können wir ihr aber aktuell nicht nachweisen. Es haben sich dafür keine eindeutigen Hinweise ergeben“, so die Staatsanwaltschaft Düsseldorf. Nochmal: Keine „eindeutigen“ Hinweise.

Die Mordkommission hatte nämlich weitergehende Ermittlungen eingeleitet, nachdem die Frau schon 2019 Beschuldigte in einem Todesermittlungsverfahren gewesen war.

Ursprünglich hatte der Richter gegen die Krankenschwester einen Untersuchungshaftbefehl erlassen, dieser wurde aber zwischenzeitlich wieder außer Vollzug gesetzt. Es gibt Meldeauflagen, wonach die Frau dreimal pro Woche bei der Polizei vorstellig werden muss. Dem sei sie nachgekommen. Morgen (Mittwoch, 7. September 2022) beginnt der Prozess in Düsseldorf.

Die engagierte Neusser Notärztin und Intensivärztin des Neusser Lukaskrankenhauses, Dr. Dagmar Flick, thematisierte bereits vor Jahren den Umgang mit der Sterbehilfe im heutigen Rheinland-Klinikum und das in dieser Hinsicht sehr selbstbewusste Auftreten der Pflege- und Rettungskräfte, die sie zum Teil auch bei der Totenschau nicht unterstützten, sondern eher behinderten. Die ordentliche Totenschau und das Feststellen einer natürlichen oder unnatürlichen Todesursache sei der letzte wertvolle Dienst am Patienten. In Deutschland bleiben wegen der schlampigen Arbeit der Ärzte bei der Totenschau viele Morde unentdeckt. Dies bestätigte auch der berühmte Leiter der Gerichtsmedizin, der viel zu früh verstorbene Professor Jürgen Barz gegenüber dieser Redaktion. So seien Ärzte gehalten, in jede Öffnung des Toten zu schauen und ihn auch umzudrehen. Wenn Rettungssanitäter oder Pfleger den manchmal zierlichen und schwachen Ärztinnen und Ärzten dabei nicht helfen, öffnet alleine diese Tatsache vielen Täter die Chance, dass sie unentdeckt bleiben.

Frank Möll

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