Lanz und Lütz: Letztes Gespräch mit Benedikt

Eine Buchrezension von Christian Dick

Vatikan. Es ist äußerst schwierig, einen hochgeistigen Intellektuellen und einen der größten Theologen des 20. Jahrhunderts wie Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVi. in all seinen Facetten zu beleuchten und ihm dabei noch dazu voll und ganz gerecht zu werden.  Man könnte meinen, dass dies dann am Ende ganze Bände füllen müsste, weil alles in epischer Breite geschildert wird und der Leser im Endeffekt von der Fülle der Informationen völlig erschlagen wird. Ein Gegenbeispiel liefert das Buch „Benedikt XVI. – Unser letztes Gespräch“, das auf der letzten persönlichen Begegnung von Dr. Manfred Lütz und dem Fernsehmoderator Markus Lanz mit dem emeritierten Papst basiert. Das Besuch besticht durch seine komprimierte Darstellungsweise auf gerade einmal 95 Seiten im DIN-A-5 Format und durch seinen flüssigen, lebendigen und äußerst unterhaltsamen Sprachstil. Der Leser wird keineswegs überfordert, sondern vielmehr durch die plastische Darstellung in dem Buch derart mitgenommen, dass er sich so fühlt, als wäre er Benedikt XVI. selbst begegnet.

Das Gespräch kam zustande, als Manfred Lütz Talkgast bei Markus Lanz war. Lanz berichtete, er habe Kardinal Ratzinger einmal interviewt und würde gern noch einmal ein Gespräch mit dem emeritierten Papst führen. Dank seiner langjährigen Kontakte zum Papst gelang es Lütz, einen Gesprächstermin zwischen ihm, Lanz und dem emeritierten Papst zu bekommen.

In dem Buch heißt es „Gescheite Menschen können mitunter anstrengend, skurril oder arrogant sein. Doch nichts von alldem war Kardinal Ratzinger. Zwar war er auch nicht eigentlich schüchtern, aber nie auftrumpfend und vor allem stets andere stützend und wertschätzend, gerade wenn sie ihm offensichtlich intellektuell weit unterlegen waren.“ (S. 20). Das Buch unterstreicht das Menschliche bei Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. Es wird aufgeräumt mit Vorurteilen, die sein ganzes Leben begleitet haben. Wenn man das Buch gelesen hat, wird deutlich, dass der Begriff „Panzerkardinal“ völlig unangemessen gewesen ist und Joseph Ratzinger vielmehr ein sehr milder, sanftmütiger und, insbesondere seinen Kritikern gegenüber, unheimlich offener Mensch gewesen ist, der ein großes Herz hatte.

Der erste Teil des Buches schildert Betrachtungen von Manfred Lütz resultierend auf der Basis  früherer Begegnungen mit Kardinal Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI.. Daran schließt sich die Darstellung des Blickwinkels von Markus Lanz an, rückblickend auf ein Interview mit Kardinal Ratzinger im Jahre 2003. Im dritten Teil des Buches beschreiben Lütz und Lanz ihre Eindrücke aus ihrem letzten Gespräch mit dem emeritierten Papst Benedikt XVI., das am 30. April 2018 stattfand und 45 Minuten gedauert hat.

Was kaum bekannt ist. Das Thema Kindesmissbrauch war schon dem damaligen Kardinal Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation besonders wichtig und er setzte es ganz oben auf die Agenda. In dem Buch schreibt Manfred Lütz: „Am 20. Oktober 1999 referierte ich auf einer nichtöffentlichen Tagung, die die vatikanische Kleruskongregation zum Thema Pädophilie und Kindesmissbrauch organisiert hatte. […] Die Tagung schien darauf angelegt, den Bischöfen Nordamerikas, die härter gegen Missbrauchstäter vorgehen wollten, in den Arm zu fallen. Vor mir gab es einen moraltheologischen Vortrag, der in diese Richtung zielte. Da meldete sich Kardinal Ratzinger zu Wort, lobte höflich den Fleiß des Referenten, aber vertrat dann in freundlichem Ton eine diametral entgegengesetzte Auffassung. Kindesmissbrauch sei ein entsetzliches Verbrechen, das müsse in aller Entschiedenheit bekämpft werden.“ In dem Buch wird weiterhin geschildert, dass Benedikt XVI. der erste Papst der Geschichte war, der der Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs höchste Priorität einräumte und der weltweit 800 Priester abgesetzt hat.

Lütz schildert seinen Eindruck über Papst Benedikt XVI. als Mensch, der sich selbst eher zurückgenommen hat, am Beispiel des Weltjugendtages in Madrid im Jahre 2011 mit folgenden Worten „66 Jahre nach dem schrecklichen Zweiten Weltkrieg, den Deutsche über die Welt gebracht hatten, jubeln zwei Millionen junge Menschen aus buchstäblich allen Ländern der Erde mit echter Begeisterung, ja Liebe einem Deutschen zu, diesem kleinen alten Mann aus Bayern, der ihnen nicht auftrumpfend, sondern bescheiden mit einfachen, fast zärtlichen Worten ins Herz sprach.“ (S. 33)

Auch wollte Benedikt XVI. nie, dass viel Aufhebens um seine Person gemacht wird. Bei einer Audienz nach seinem Rücktritt sagte er zu Manfred Lütz in Bezug auf Bildchen aus seiner Zeit als Papst, die auf dem Tisch lagen: »Da können Sie sich gerne eins mitnehmen …« – Zögern – »aber nein, lassen Sie es lieber, dieser Personenkult ist doch schrecklich …«“ (Zitat Manfred Lütz, S. 35)

»DAS EINZIGE, WAS BLEIBT, IST DIE SEELE, DIE LIEBE UND DIE GESTE, DIE DAS HERZ ZU BERÜHREN VERMAG.«

Markus Lanz beschreibt am Beispiel des Weltjugendtages in Köln im Jahre 2005 zwei völlig unterschiedliche Arten der Außenwirkung Papst Benedikts XVI. und führt aus „Es gibt da diese beiden Bilder. Auf dem ersten ein Papst, der auf einem Rheinschiff in die Stadt fährt und dabei seltsam scheu und distanziert wirkt, fast so, als sei er sich nicht sicher, wem der Jubel und die »Benedetto«-Rufe der unzähligen jungen Menschen denn nun eigentlich gelten. Und dann das zweite Bild: der Papst auf dem Marienfeld. Mehr als eine Million Jugendliche, die in ihrer gnadenlosen Fröhlichkeit nicht locker lassen und ihn mit ihrer Begeisterung anstecken, Stück für Stück und Minute für Minute immer noch ein bisschen mehr, und ihn schließlich emotional überwältigen und einfach mitreißen. Die Welt habe ihn davor und danach nie wieder so gelöst erlebt wie damals in Köln – so ist es oft beschrieben worden.“ Und weiter heißt es: „Der Blick dieses Papstes ging nie nach draußen, nie, und nicht einmal in Köln. Die Wahrheit lag für ihn immer in der Seele, »von innen her«, so nannte er das.“ (S. 50)

Lanz zieht folgendes Résumé: „Vielleicht braucht die Welt als Nachfolger Petri, als Papst, mehr einen energischen, machtbewussten Macher als einen feinsinnigen, brillanten Denker. Vielleicht fehlte Benedikt tatsächlich im entscheidenden Moment manchmal die nötige Härte, um ein verkrustetes System zu überwinden.“ (S. 61)

Lanz vergleicht die Lebenshaltung Ratzingers mit jener der Benediktinerinnen, die bis vor einigen Jahren Kloster Säben in Südtirol waren, und mit der Lebenshaltung der Mönche in der Wüste und zitiert aus der Predigt Kardinal Ratzingers vor dem Konklave im Jahre 2005: »Alle Menschen wollen eine Spur hervorbringen, die bleibt. Aber was bleibt? Das Geld nicht. Auch die Gebäude nicht; ebenso wenig die Bücher. Nach einer mehr oder weniger langen Zeit verschwinden alle diese Dinge. Das Einzige, was bleibt, ist die Seele, die Liebe und die Geste, die das Herz zu berühren vermag.« (S. 64)

Markus Lanz erinnert Benedikt XIV. dann an seine erste Begegnung mit ihm 2003 auf dem Campo Santo Teutonico. Er habe ihn damals gefragt, ob wenigstens er ihm, als so bedeutender Theologe, mal verbindlich sagen könnte, wie denn der liebe Gott aussehe. Und ob er einen Bart habe oder nicht. Dann aber habe Kardinal Ratzinger etwas gesagt, was er – Markus Lanz – nie mehr vergessen habe. Er habe gesagt, „ab und zu hätten wir das große Glück, Menschen zu begegnen, bei denen man etwas Göttliches durchschimmern sehe.“ Diese Antwort hat Lanz lange beschäftigt.

Manfred Lütz kommt auf das Thema Sexualität zu sprechen: Die katholische Kirche und auch er speziell seien in der Öffentlichkeit ja immer mit der Sexualmoral in Verbindung gebracht worden. Dabei habe er mal nachgeprüft, dass Papst Benedikt während des Weltjugendtags in Köln, als mehr als eine Million Jugendliche aus aller Welt zusammenkamen, keinen einzigen Satz über Sexualmoral gesagt habe. Er habe von der Freude des Glaubens, von Gott, vom Gebet und vom Einsatz von jungen Menschen für eine bessere Welt gesprochen.“ (S. 85)

Noch nie mit einem Papst völlig einverstanden gewesen

„Dann geht es um sein Verhältnis zu Papst Franziskus. Er habe ja mal gesagt, dass er mit seinem Nachfolger theologisch auf einer Linie sei. Benedikt dazu: Franziskus besuche ihn gelegentlich, es sei ein sehr angenehmes Verhältnis. Im Übrigen sei er noch nie mit einem Papst völlig einverstanden gewesen, auch nicht mit Pius XII. Aber Franziskus sei jetzt das Oberhaupt der Kirche und als solches natürlich auch für ihn zuständig. Franziskus stehe ihm in vielen Fragen tatsächlich sehr nahe. Natürlich sei er in gewisser Weise dennoch ganz anders, aber er habe eine große Herzlichkeit, die er spüre und auch annehmen könne. Aber er könne sich auch vorstellen, dass er manchmal auch sehr hart sein könne.“ (S. 86)

„Markus Lanz: Ob er ihn etwas sehr Intimes fragen dürfe? Habe auch jemand wie er Angst vor dem Tod? Papst Benedikt denkt lange nach und antwortet dann, er freue sich, bald nach Hause gehen zu dürfen, seine Schwester wiederzusehen, seine Eltern wiederzusehen und fast alle seine Freunde, die schon drüben seien. Und er hoffe sehr, dass dieser Moment bald da sein werde, er hoffe das wirklich sehr. Und nach einer Pause ergänzt er, einerseits freue er sich, nach Hause zu gehen, aber, ja, er habe auch ein wenig Angst vor der Pflege in der letzten Phase, so, wie sie wahrscheinlich jeder Mensch habe.“ (S. 91)

„Zum Schluss fragt ihn Manfred Lütz noch, was er sich wünschen würde, dass von ihm später mal gesagt werden solle. Das sei ihm eigentlich egal, antwortet Benedikt und lachend fügt er hinzu, er hoffe, nicht allzu viel Böses.“ (S. 92)

Im Nachtrag des Buches heißt es:

„Am 20.1.2022 erschien das Münchner Missbrauchsgutachten und ein Sturm brach über den 94-jährigen emeritierten Papst herein. Von Juristen formulierte, aber für einen ehemaligen Papst ganz unangemessene Antworten und die falsche Angabe zu seiner Anwesenheit bei einer Sitzung erhitzten die Gemüter. Ein zweifellos von ihm selber verfasster Brief klärte die näheren Umstände auf und war zugleich das letzte öffentliche Glaubenszeugnis eines großen Theologen vor dem »dunkle(n) Tor des Todes«. Dass er dabei nicht nur seine »aufrichtige Bitte um Entschuldigung gegenüber allen Opfern« zum Ausdruck brachte, sondern auch Lob und Dank für seine Mitarbeiter, deren Fehler er mit keinem Wort kritisierte, macht diesen letzten öffentlichen Brief zu einem Dokument auch für die Tragik dieses Mannes, dem die unerschütterliche Treue zu seinen Mitarbeitern stets wichtiger war als sein eigener guter Ruf. Und dieser Brief bestätigt zugleich noch einmal die Sicht des Lebens und des Glaubens ganz von innen her, auf die Markus Lanz oben hinwies. Der Text verzichtet völlig auf Applaus, auf billige Medieneffekte nach außen und ritualisierte Formulierungen, die ihm manche schon sozusagen diktiert hatten, die aber nicht echt gewesen wären. Am Schluss ist er ganz bei sich, bei der Kirche, bei den Freunden und legt Rechenschaft ab nicht vor der wankelmütigen Öffentlichkeit, sondern mit den Worten der heiligen Messe, die er bis zu seinem Tod täglich feierte, vor dem ewigen Gott. Joseph Ratzinger, Papst Benedikt XVI. starb im Alter von 95 Jahren am 31. Dezember 2022 in Rom.“ (S. 94/95)

Das vorliegende Buch ist lesenswert, weil es eine objektive Darstellung ist, die sehr gut verdeutlicht, was für einen Charakter Papst Benedikt XVI. hatte und welche Leitmotive sein Leben geprägt haben. Damit ist als das Buch auch für seine Kritiker sehr empfehlen, um so manches Fehlurteil in ein richtiges Licht zu rücken.

 

Markus Lanz, Manfred Lütz

Benedikt XVI. – Unser letztes Gespräch

Hardcover mit Schutzumschlag, 96 Seiten

Mit Schwarz-Weiß-Fotografien von Markus Lanz

ISBN: 978-3-466-37316-1Kösel-Verlag München

 18,00 [D] 

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